Die Welt - 12.06.1999

Im Dreck deutscher Geschichte graben

Von Susanne Leinemann

Als Daniela anfängt, die Schuhe freizulegen, macht sie das mit spitzen Fingern. Die bayrische Architekturstudentin mit den langen lockigen Haaren kniet auf einem Holzbrett und stochert unentschlossen mit dem Spachtel in der Erde herum. Ihre Fingernägel sind weiß lackiert und sorgfältig gepflegt. Dann taucht aus dem Boden der kleinen Erdhütte des KZ, in der mindestens 20 Männer im Winter 1944/45 hausen mußten, ein doppelt verstärkter Stacheldraht auf. "Das ist ja gruselig. Jetzt kann man sich das so richtig vorstellen", sagt sie leise, befreit die Sachen vom Dreck und vergißt dabei, ihre Hände zu schonen.

Sobald es warm wird und der Sommer kommt, beginnt die Zeit der Grabungen. Anfang der neunziger Jahre zog die Archäologie in deutsche KZ-Gedenkstätten ein. Meist sind es Jugendliche aus internationalen Workcamps, die im Boden nach Spuren der Konzentrationslager, ihrer Insassen und deren Bewacher suchen. In Dachau, Bergen-Belsen, Neuengamme, Buchenwald, Ravensbrück, Sachsenhausen - und hier, im kleinen KZ Waldlager bei Mühldorf am Inn. Es gibt ein Bedürfnis nach Authentischem.

Und einen Bedarf danach. Schon rechnen die Historiker im stillen, welche Generation Heranwachsender noch in den Genuß von Zeitzeugen kommt, bevor die letzten gestorben sind. Denn wer sich heute als Überlebender an die NS-Vergangenheit erinnert, der war in der Zeit der Konzentrationslager meist im Schulalter. Zwar werden möglichst viele Erzählungen der Shoah digitalisiert und auf CD-Rom gepreßt, aber sie allein vermögen keine lebendige Erinnerung wachzuhalten. Für die Kiddies muß ein sinnliches Erlebnis her.

Die Grabung im KZ Waldlager in Oberbayern fällt aus dem Rahmen der üblichen Gedenkstätteninitiativen. Hier ist eine Lehrveranstaltung am Werk. Die 17 Architekturstudenten der Fachhochschule München sollen für eine Praxisübung Erdhütten, Latrinen und Baracken vermessen und daraus Grundrisse erstellen. Eine Privatinitiative ihres Professors, des Architekturhistorikers Hansgeorg Bankel, den der kaum bekannte Ort seit einem Jahr nicht mehr losläßt. Unberührt liegt er im Forst - ohne Kennzeichnung als ehemaliges KZ - ab und zu kommen Waldarbeiter oder Spaziergänger vorbei. Nur regelmäßige Erdsenken und verstreute Betonteile weisen darauf hin, daß hier mal etwas stand. Eine Jugendbegegnungsstätte oder ähnliche Einrichtungen gibt es nicht.

Hier lebten seit Juli 1944 bis Mai 1945 über 2250 Menschen. Männer, Frauen und - darf man den Schuhgrößen glauben - auch einige Kinder. Sie mußten, wie viele andere KZ-Häftlinge, auf der Mammutbaustelle im nahegelegenen Mühldorfer Hart arbeiten. Dort entstand eine 400 Meter lange halbunterirdische Bunkerhalle aus Beton - eines der letzten Großprojekte des Dritten Reiches, begonnen in einer Zeit, als das Wort "Endsieg" nur noch in Kombination mit "Wunderwaffe" ausgesprochen wurde. Unter den Betonbögen von 80 Metern Spannweite sollten Teile des ersten serienmäßigen Düsenjagdbombers, der Messerschmidt 262, produziert werden. Weil reguläre Arbeitskräfte damals kaum greifbar waren, mietete die Organisation Todt für 60 Pfennige die Stunde KZ-Häftlinge von der SS. In den zehn Monaten Bauzeit starb die Hälfte der 8000 Männer und Frauen.

Ihre Spuren haben sich massenhaft erhalten: Löffel, Geschirr, Werkzeug - und Schuhe. Ein Baum hat sich inzwischen in das Leder hineingefressen. Die Wurzeln, fein wie Adern, durchziehen die Löcher in den Sohlen, die porösen Zungen und säuberlichen Nahtstiche. Es sind schwere, genagelte Herrenschuhe darunter, Damenschuhe mit einem elegant schmalen Steg und Kinderschuhe, die so klein sind wie eine Handfläche. Daniela hat die dünne Moosdecke inzwischen gänzlich gehoben. Ein Grab von mehr als 100 Schuhen liegt frei, achtlos auf den Boden gekippt.

Die TV-Generation sucht in der Erde nach Unberührtem und findet eine Momentaufnahme aus dem Jahr 1945. Sie ist nirgends abgelichtet, nicht nachgestellt oder gründlich ausgeleuchtet - weder in Schwarzweiß noch Kino-Bunt. Und das macht den Moment einzigartig. Zwischen den Wurzeln und dunkler Erde taucht plötzlich direkt unter dem Baum ein kompletter Männerschuh auf, dessen Schnürsenkel Draht ersetzt. In der Phantasie kehrt das Schuhwerk an den Fuß eines Häftlings zurück und kann sich mühelos durch die Holocaust-Bilderwelt bewegen. Er wurde in Budapest in einen Viehwaggon geprügelt, hat kurz die Rampe von Auschwitz betreten und stand über Stunden auf dem Appellplatz des Waldlagers. All das ist nicht nur Fiktion: Der Schuh ist echt.

Andere Gegenstände lassen dagegen die Betrachter ratlos. Die Gruppe, die das ehemalige Kammergebäude vermißt, holt ein ziseliertes Drahtobjekt aus der Erde. "Das ist ein Blumentopfhalter", sagt Ronald mit Bestimmtheit - solche kenne er noch aus DDR-Zeiten. Die SS und Blumen? Ayla schüttelt protestierend den Kopf. "So sensibel waren die doch gar nicht", widerspricht die Deutsch-Türkin.

Ob die geborgenen Objekte verwirren oder aufklären, ob sie für die Vergangenheit sensibilisieren oder den KZ-Alltag banalisieren, hängt von Fund und Fundort ab.

Wer auf den im Wald versteckten Müllkippen des Konzentrationslagers Buchenwald Eßnäpfe, Brillengestelle und Eheringe findet, den verläßt jede scherzende Leichtigkeit. Aber im Waldlager, dessen Tote und Überlebende kein Gesicht haben und das nie im Kanon der großen Konzentrationslager genannt wird, gerät der Kontext manchmal in Vergessenheit. Mittags wird das Essen aus dem nahegelegenen MacDonald's herbeigeschafft, Pommes frites und Bic Mäc machen die Runde.

Aber daß sie sich überhaupt für den Ort interessieren, den sich die Natur zurückerobert hat, unterscheidet sie. Morgens schaut der Oberförster mit Frau und Hund vorbei. "Hier gibt's doch nichts zu finden", grummelt er, seine Gattin in kurzen Hosen geht grußlos an den Studenten vorbei. Nur das Tier stolpert über eine Meßschnur, die kurz über dem Boden gespannt ist.

Er hat unrecht. Hier liegt die Banalität des Bösen. Gerade haben die Studenten eine Reihe von faustdicken Zierkieseln freigelegt, die einen hübschen kleinen Vorgarten vor jeder Erdhütte markieren. Auch ein acht Meter breiter Lagerweg wird von ihnen flankiert, an der Straßenkreuzung biegt die Steinsetzung liebevoll um die Ecke - die kleinbürgerliche Ordnung des Terrors. So authentisch lag ein deutsches KZ-Gelände selten da.

In der Gedenkstätte Buchenwald beginnt heute die Tagung "Wenn die Zeugen schweigen ... Gedenken und Gedenkstättenarbeit in der Zukunft", organisiert vom Verein "Gegen Vergessen - Für Demokratie". Erstmals wird es dort auch um Archäologie in ehemaligen Konzentrationslagern gehen.

Geschichtswerkstatt Mühldorf e.V.