Der Tagesspiegel vom 30.03.2000

Baukultur in Deutschland

Wie es um die Baukultur in Deutschland bestellt ist, und zwar aus heutiger Sicht im Blick zurück auf das gesamte, jüngst zu Ende gegangene Säkulum, ist das Thema der neuen Ausstellung des Deutschen Architektur-Museums (DAM) in Frankfurt am Main. Ende vergangener Woche eröffnete das finanziell arg bedrängte Haus als achte Folge seiner Länderreihe "Architektur im 20. Jahrhundert" den Überblick "Deutschland".

Überraschenderweise werden nicht die bestens bekannten Meisterleistungen ein weiteres Mal vorgestellt, sondern 105 beispielhafte oder besser: typische, aber nicht unbedingt ästhetisch oder funktional makellose Lösungen für konkrete Bauaufgaben. Diese Aufgaben haben die Verantwortlichen - Wilfried Wang, der als scheidender Direktor seine Abschiedsveranstaltung ausrichtet, und Romana Schneider vom DAM sowie Winfried Nerdinger, Leiter des Architekturmuseums München - in vierzehn Kapitel gegliedert. Aber diese Gliederung folgt keinem nach Bauten geordneten Schema wie Nikolaus Pevsners legendäre "History of Building Types", sondern fragt nach den menschlichen Tätigkeiten, die sich in Bauten ihr jeweiliges Gehäuse schaffen. So lauten die Kapitel beispielsweise "Siedeln in Gemeinschaften", "Mobil sein", "Leistung steigern" oder "Teilen und verwalten".

Gewiss, die Abweichung gegenüber der Einteilung nach Bautypen mag gering sein. Aber es zählt der Wechsel der Perspektive. Der Nutzer steht im Mittelpunkt der Frankfurter Ausstellung. Und so - dritte Besonderheit - haben die Kuratoren auf den Einsatz originaler Materialien, also von Zeichnungen, Plänen und Fotografien des "Bestzustandes" verzichtet und lediglich Modelle zugelassen, stattdessen aber elf Fotografen beauftragt, zu annähernd gleichem Zeitpunkt aufzunehmen, wie sich die gewählten Bauten heutzutage ausnehmen, wie sie genutzt werden und vor allem, wie sich Menschen im Raum der Architektur bewegen - kurz, um "darzustellen, was tatsächlich ist".

Bei allen Unterschieden der fotografischen Ausdrucksweise formen die Aufnahmen der elf Fotografen ein erstaunlich einheitlich wirkendes Bild. Beinahe nie kommt ein Bauwerk vollständig zur Ansicht, meist wurde ein suggestiver Ausschnitt gewählt; beinahe nie fehlen Menschen auf den - im einheitlichen Großformat präsentierten - Farbaufnahmen, immer aber sind Spuren menschlicher Tätigkeiten auszumachen, bewusste Eingriffe ebenso wie Gleichgültigkeit. Der einheitliche Zeitpunkt der Neuaufnahmen im vergangenen Spätsommer liefert eine Momentaufnahme des Umgangs mit Architektur, in der die jeweiligen Errichtungsdaten gegenüber dem Alltagsbild des Jahres 1999 weit zurücktreten.

Nun führt der Wechsel der Perspektive allerdings zu Konsequenzen, die die Kuratoren nicht in ganzer Schärfe zu ziehen bereit waren. Die herkömmliche Architekturgeschichte beschränkt sich auf die Meisterwerke; was diese an minderer Nachahmung gezeitigt haben, verliert sie gerne aus dem Blick. Es war dies ja die Fundamentalkritik an der klassisch gewordenen Moderne, wie sie nicht zuletzt in Deutschland in den zwanziger Jahren entstand, dass sie - unbeabsichtigt, aber auch gleichgültig - all' die Wucherungen hervorgebracht und legitimiert hat, die die Städte der Nachkriegszeit in Gestalt von Bürokisten, Punktwohnhäusern und Großsiedlungen verschandeln. Wenn nun die Frankfurter Ausstellung den Blick der Nutzer - noch dazu der zufälligen, die kein Architekt je nach ihren Wünschen befragt hat - einnimmt, dürfte sie um eine entsprechende Kritik an der Masse des Gebauten nicht herumkommen.

Damit halten sich die knappen, den vierzehn Kapiteln jeweils vorangestellten - und wie die Fotografien in dem sehr ansprechenden Katalog vollständig wiedergegebenen - Einleitungstexte allerdings zurück. Die Kuratoren wollten ihre ohenhin schon diskutable Auswahl der Gebäude nicht durch prononcierte Stellungnahme beschweren. Es ist ein Wagnis - und verdient, vor aller Kritik im einzelnen, nachdrückliche Anerkennung -, den gesicherten Kanon der Meisterwerke zu verlassen und auch problematische Bauten einzubeziehen, aus dem begründeten Ansatz heraus, exemplarische Antworten auf die immer wiederkehrenden Fragen des Bauens zu zeigen. So kommt denn auch das den Auszug auf die "grüne Wiese" markierende "Main-Taunus-Zentrum" in Sulzbach von 1964 zu Ehren, ebenso wie das "Centrum"-Warenhaus im thüringischen Suhl von 1969 - und, jüngstes Beispiel, die Oberhausener Mega-Mall "CentrO" (1997) vom Großbüro RKW.

Damit ist zugleich die beinahe übergroße Klippe angedeutet, die die Verantwortlichen zu umschiffen hatten: der mehrfache Wechsel der Regierungssysteme und der Ideologien in Deutschland. Eine stilgeschichtliche Betrachtung drückt sich um das Problem herum; die Frankfurter Ausstellung aber hatte dieser zerklüfteten deutschen Geschichte zu begegnen. Nicht weniger als fünf Regierungsformen hat es schließlich im Deutschland des 20. Jahrhunderts gegeben, vom Kaiserreich über Weimarer Republik und NS-Diktatur bis zu den beiden deutschen Staaten der Nachkriegszeit, deren westlicher sich als der unvergleichlich geglücktere erwiesen und durchgesetzt hat.

Im abrupten Wechsel der politischen und gesellschaftlichen Leitbilder verblassten vielfach die ursprünglich zugedachten Aufgaben eines Bauwerks, am stärksten bei öffentliche Bauten. Weder die Magdeburger Stadthalle von 1927 noch der "Kulturpalast" des VEB Maxhütte Unterwellenborn von 1955 haben ihr soziales Pathos bewahren können, und gar die Kirchenbauten des Jahrhundertbeginns - wie Theodor Fischers Ulmer Garnisonkirche von 1910 - bezeugen heute nur mehr das Verschwinden amtskirchlicher Frömmigkeit.

Gleichwohl bewahren sie Geschichte in all ihren Facetten. So ist es denn eine schmerzliche, aber folgerichtige Entscheidung der Veranstalter, auch zwei Objekte in die Reihe der 105 Bauten aufzunehmen, die für die vollständige Negation aller Humanität stehen: Die Wachhäuser des KZ Sachsenhausen - unter "Anpassen und Ausgrenzen" - und die technisch ingeniöse, mit dem Tod tausender Zwangsarbeiter bezahlte Bunkerfabrik im bayerischen Mühldorf im Kapitel "Erfinden und konstruieren". Auch in solchen, furchtbaren Bauten spiegelt sich deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Es war nicht die Absicht, allen Epochen deutscher Geschichte gleichermaßen gerecht zu werden. Doch die Auswahl nach dem Kriterium des "Exemplarischen" gegenüber dem des "Stilbildenden" zwingt, den Wandel der Bauaufgaben im soziopolitischen Kontext nachzuzeichnen. Daraus resultiert eine gewisse Indifferenz der Ausstellung, unterstrichen durch die ähnlich angelegten Fotografien. Alle vorgestellten Bauten sind gleichermaßen typisch oder wirkungsmächtig, alle erweisen sich als nutzbar; wie denn auch anders. Entsprechend stellt das Kapitel "Siedeln in Gemeinschaften" die Stuttgarter Weißenhofsiedlung von 1927, Manifest einer neuen Architekturauffassung, unterschiedslos neben die "Stadt des KdF-Wagens", das spätere Wolfsburg, oder die Bauten der "sozialistischen" Stalinstadt, heute Eisenhüttenstadt. Mit der "Metastadt" Wulfen aus den frühen siebziger Jahren wird gar eine Bauidee vorgestellt - einschließlich eines rührend anmutenden Modells -, die sich nun gerade nicht als nachhaltig erwiesen hat, sondern als Sackgasse: Der als beliebig erweiterbar gedachte, zusammengeschraubte Klötzchenbau wurde wegen irreparabler Schäden bereits 1987 wieder abgerissen.

Die Frankfurter Ausstellung stellt die Architekturgeschichte nicht auf den Kopf. Allenfalls hilft sie, wie ihre Veranstalter zumindest hoffen, die herkömmlichen Sehgewohnheiten der Baugeschichte in Frage zu stellen. Sie setzt den alltäglichen Blick ins Recht, weil dieser es ist, der den Alltagsnutzen des Gebauten erkennt. Die ästhetische, die baukünstlerische Aufgabe der Architektur aber lässt sich aus diesem Blickwinkel nicht bewältigen. Über das Typische weist das Vorbildliche auch zukünftig hinaus.

 

Geschichtswerkstatt Mühldorf e.V.